One moment like this
Die beiden grössten auf der Erde vorkommenden Merkmale, der Himmel und der Ozean tragen die Farbe Blau. Dazwischen ist das in allen nur erdenklichen, manchmal schillernden, dann wieder unscheinbaren, sanften oder kräftigen, wilden und zahmen, leuchtenden und dumpfen, hellen und dunklen Farben überzogene Festland auf welchem wir unser je eigenes Leben in all seinen reichen Facetten verbringen. Unsere Träume und unsere Sehnsüchte allerdings, unsere Seele wandert immer wieder, nicht nur des Nachts, zurück ins grosse, weite oder tiefe Blau, entwirrt hier ihre Kräfte, um sie neu zu bündeln, zu sammeln, zu kanalisieren und erfrischt wieder zu neuen Ufern heimzukehren.
Wenn Licht auf einen Gegenstand fällt und ihn dadurch zum Strahlen bringt, entsteht dahinter ein Schatten. Schatten begrenzen Stellen, wo das Licht fehlt, weil es aufgehalten wurde. Etwas Farbiges und Körperliches wird nun als reine manchmal entfremdete flache Form ersichtlich und tritt in einer dunkleren und zur Umgebung in Beziehung tretenden Farbe in Erscheinung. Häufig sind es Töne von Violett bis Nachtblau, die ich sehe. Wunderbare Effekte ergeben sich bei mehreren Lichtquellen oder weiteren äusseren Einflüssen wie Wind oder Bewegung.
Schatten faszinieren mich seit jeher. Wer kennt nicht auch das Spiel meiner Kindheit, hüpfend auf den eigenen Schatten treten zu wollen und die Naturgesetze ausser Kraft zu setzen? Ich spiele dieses Spiel noch heute, jedoch ist es nun das Licht, welches mich führt und versucht, mir ausserhalb der Naturgesetze die Schönheit und Unerklärlichkeit der Welt, des Lebens und Empfindens zu zeigen. Das Phänomen, dass Schatten ihren Ort und ihre Form jeden Augenblick mit der wandernden Sonne verschieben und dass sie nicht reproduzierbar sind, macht sie für mich besonders reizvoll. Genau dieser Schatten, den wir in einem Augenblick sehen, wird nie mehr zurückkommen. Schatten sind visuelle Schätze ohne Begrenzung und bieten unendlichen immer wieder neu entstehenden visuellen Zauber. In meinem Empfinden eine Metapher für die Einmaligkeit unseres Daseins und das Gebot, demütig zu sein. Zu sehen, zu geniessen, anzunehmen und zu schätzen was da ist.
Meine Schattenbilder spraye ich daher gerne in einem dunklen Kobaltblau, der Farbe der Unendlichkeit, der Weite, der Tiefe und der Seele.
Der Spray erlaubt es mir, sehr schnell zu arbeiten und mich nicht von der Sonne überholen zu lassen. Intuitiv spraye ich mit dem mir eigenen und im Moment zur Verfügung stehenden Duktus nah über das rohe Leinen, welches ich vorher unter dem Schatten ausgebreitet habe. Der Wind bewegt nicht nur die Äste und Blätter des Baumes und sorgt dafür, dass ich nicht exakt arbeiten kann und immer auch meine spontane Reaktion mit einarbeite, sondern weht auch die Sprühfarbe leicht über ihren Zielort hinweg und bringt einen Teil Unsteuerbarkeit in den Prozess. Manchmal tropft Farbe aus der Dose, da ich am Boden arbeite. Die kleinen Punkte, wie Sterne, werden von mir freudig empfangen. Ich möchte nicht die Flüchtigkeit, sondern die Präsenz ins Zentrum rücken. Nicht das Unmögliche oder Verlorene, sondern das Jetzt, das Kommende und das Sinnliche. Die Eigenschaften der Darstellung werden durch die Eigenschaften des Dargestellten, des Moments, des Malmittels und durch mich als agierende Person bestimmt. Das Ephemere wird zur Schönheit, die als reine Form zurückbleibt.
Wenn ein Schatten fertig gesprayt ist, breite ich das nächste Stück Leinwand an anderer Stelle aus. Nach zwei oder mehreren Leinwänden lege ich sie an einen schattenlosen Platz, um sie mir genau anzuschauen und eventuell miteinander in Beziehung zu bringen. Nun betrachte ich die Bilder rein formal und nehme vielleicht nochmals die Spraydose zur Hand, um so lange weiterzuarbeiten, bis das Werk die Kraft zum Ausdruck bringt, die ich in meiner ganzheitlichen ästhetischen Erfahrung in dieser Naturumgebung empfunden habe.
Die Form des Diptychons, also die Kombination von zwei Leinwänden zu einem Werk, gefällt mir in dieser Arbeitsreihe besonders, da sie inhaltlich nochmals verstärkt, was ich zeigen möchte, und Bezug nimmt zur Einmaligkeit und Vergänglichkeit des Augenblicks und zur Ganzheit von Unterschiedlichem. Jede der beiden Leinwände kann für sich als Werk betrachtet werden, doch erst im dualen Spiel und in der korrespondierenden Vereinigung ergibt sich die spezielle Kraft. Jede der Leinwände könnte anders kombiniert werden zu einem wiederum anderen Ausdruck. Die Möglichkeiten sind so weit wie die Vorstellung, und doch entscheide ich mich im Augenblick für das, was meine Intuition und meine ästhetische Empfindung mir rät und was meine Erinnerung am lebendigsten und lustvollsten hält. Und dann ist es richtig und gut so.
Der Versuch, etwas Vergängliches festzuhalten ist nie meine Intention. Allerdings bietet das Bewusstsein der Einmaligkeit und die Belebung der Darstellung des Vergänglichen einen grossen Genuss. Es liegt in der Macht des Rezipienten, dem Werk in der Vermischung mit eigenen Imaginationen und eigenem Erleben, Lebendigkeit und Sinnhaftigkeit zu verleihen. Für mich jeweils ein besonderes Glück, wenn ein Betrachter seine Gedanken und Gefühle mit mir teilen mag und sich der Lichtkreis der ausgesandten Zündung bei mir schliesst. Nicht selten ist die Spur von etwas unwiederbringlich Verklungenem in der Interaktion ein Anspiel für weiteres Klingen.